
Aus dem Leben eines Bauberaters
Hauptbahnhof. Es ist halb sechs Uhr abends. Von allen Seiten strömen Leute aus Zügen aufs Gleis. Einige starke junge Männer helfen einer Frau, den Kinderwagen die Treppe hinunter zu tragen. Nicht weit von ihnen hieven zwei Frauen einen Rollstuhlfahrer in den Bus. Eine ältere Frau mit einer Sehbehinderung stolpert über einen kleinen Absatz. Szenen wie diese kann man (leider) täglich beobachten. Die Zukunft soll jedoch anders aussehen.
Beat ist seit 16 Jahren als Bauberater für die Fachstelle Hindernisfrei Bauen Luzern tätig (kurz: HBLU. Hinweis: Der Verein Hindernisfrei Bauen Luzern ist der Träger der Fachstelle.). Der Weg dorthin nahm einige Umwege: Auf einem Bauernhof aufgewachsen entschied sich Beat später für die Ausbildung als Schreiner. Er übernahm den Hof seiner Eltern und führte den kleinen, familiären, landwirtschaftlichen Betrieb noch für viele Jahre. Beat wurde Mitglied bei der Selbsthilfeorganisation “Vereinigung – Cerebral” – als Vater einer Tochter mit Behinderungen. “Man erkannte dort scheinbar, dass ich Ahnung vom Bauen hatte”, reflektiert Beat. Dadurch wurde er Delegierter von Cerebral im Verein HBLU und nahm fortan an deren Vorstandssitzungen teil. Auch dort entdeckte man seine grundlegenden Kenntnisse vom Bauen. Als wäre es ein Weihnachtsgeschenk, fragte ihn sein damaliger (bereits im Pensionsalter stehende) Bauberater-Vorgänger Josef “Seppi” Lang: “Möchtest du meine Aufgabe übernehmen?”
Ein Beruf ohne staatlichen Titel
Beat war überrascht. 2003 fühlte er sich noch nicht bereit für diesen Job. Doch Seppi pushte und unterstütze ihn so lange, bis Beat es wagte. Obwohl ‘Bauberater*in’ kein staatlich anerkannter Titel darstellt, gibt es eine 2-tägige Grundbildung in Zürich. Dort fiel Beats Entscheidung, Bauberater zu werden. Am Mittagstisch fragte er einen der Referenten, welche Voraussetzungen man als Bauberater*in mitbringen müsse? Der Referent antwortete mit einer Gegenfrage: Was denn sein Beruf sei? “Ach, ich bin Schreiner, Selbstständiger und wohne auf einem Bauernhof”, muss die bodenständige Antwort von Beat etwa geklungen haben. Der Referent erwiderte ernüchternd: “In der Schweiz sind alle Bauberater*innen Architekten oder Ingenieure.” Tja – und deshalb wurde Beat Bauberater. Er lächelt verschmitzt, als er diese Geschichte erzählt.
Vom Badezimmer ins Sitzungszimmer
Die Aufgabenbereiche als Bauberater*in sind breit gefächert. Auf die Frage, was er denn genau mache, kann Beat eine lange und ausführliche, aber keine abschliessende Antwort geben. Einerseits ist es seine Pflicht, Menschen mit Behinderungen in allen baulichen Anliegen zu beraten. Sei es im häuslichen Umfeld oder bei baulichen Fragen am Arbeitsplatz: Beat steht zur Seite, wenn ein Badezimmer umgebaut werden muss oder eine Toilette im Unternehmen allen zugänglich sein soll. Vom Hauseingang über den Treppenlift bis zur Türverbreiterung – Beat unterstützt in sämtlichen baulichen Bereichen. “Die Gebäude sollen möglichst soweit angepasst werden, dass eine selbstständige und autonome Benutzung für alle Bewohner*innen möglich ist.”
Gleichzeitig ist die Fachstelle Hindernisfrei Bauen Luzern in ihrem Kanton gesetzlich berechtigt, Stellungnahmen zu aktuellen Baugesuchen abzugeben. Baugesuchsprüfung nennt sich dieses Verfahren. “Wir prüfen, ob Baugesuche den geltenden Gesetzen und Normen entsprechen. Anschliessend nehmen wir gegenüber der Baubewilligungsbehörde dazu Stellung.” Die Bewilligungsbehörde entscheidet, was als angemessen gilt und was nicht. Oft melden sich daraufhin die Architekt*innen oder Ingenieur*innen, um eine gemeinsame Lösung zu finden.
Mehrwert für die Gesellschaft
Auf den ersten Blick hört sich das nach viel Bürokratie an. Doch der Mehrwert, welcher das hindernisfreie Bauen bietet, ist schnell erkennbar. Auch wenn es auf den ersten Blick so scheinen mag: Es sind nicht nur Personen im Rollstuhl, welche davon profitieren. “Rund 1,6 Millionen Menschen in der Schweiz leben mit einer Behinderung. Das ist rein statistisch gesehen jeder Fünfte! Dabei sind Geh-, Seh- und Hörbehinderungen nur die bekanntesten davon. Unsere Arbeit dient aber der ganzen Gesellschaft: Menschen mit Rollatoren, Eltern mit Kinderwagen, Reisende mit Koffern, ‘Schüler*innen mit kleinen Rollköfferli’ – sie alle profitieren von Liften oder Rampen.” In diesem Zusammenhang erinnert Beat sich gerne an einen Gemeindeammann, der einst in etwa postulierte: “Wir brauchen Rampen und Unterführungen an Bahnhöfen, nur schon für die unzähligen Rekrut*innen und Soldat*innen, welche ihre ‘Mutterschiffe’ (= Koffer aus dem Schweizer Militär) vollbeladen mit Wäsche zum Waschen nach Hause schleppen!”
Dieses Beispiel veranschaulicht für Beat besonders eingängig den Leitspruch der HBLU:
“Hindernisfrei Bauen ist für 10% der Bevölkerung unbedingt erforderlich,
für 30% der Bevölkerung nötig,
und für 100% der Bevölkerung nutzbar und hilfreich.”
Warum “hindernisfrei” ein Synonym für “Egoismus” sein kann
Unter all diesen Gesichtspunkten ist es beinahe etwas voraussehbar, dass Beat auf die Frage, ob er stolz auf seinen Beruf ist, felsenfest überzeugt antwortet: “Mehr als stolz.” Sein Lächeln verrät das Gleiche. “Jemand hat auf die Frage ‘Warum mache ich diesen Job’ einmal geantwortet: Weil ich egoistisch bin. Ich habe die Hoffnung, alt zu werden und aus dem Alter resultieren Einschränkungen. Mit meiner täglichen Arbeit bereite ich mir selbst einen angenehmen Lebensabend”, erzählt Beat und fügt an, dass dieser Ansatz ihm durchaus gefällt, obwohl er ihn nicht als vordergründiges Ziel sieht. Doch egal wie man es dreht und wendet – die Barrierefreiheit im Alltag erleichtert auch den Ottonormalbürgern ihr Leben.
Trotzdem steht die Fachstelle oft stark im Wind und sieht sich mit viel Kritik konfrontiert.
BehiG gegen Baukosten
Bauherr*innen, Architekt*innen und Ingenieur*innen möchten sich oft verwirklichen und die bauliche Freiheit ausleben. Normative Vorgaben und Gesetze stossen deswegen nicht auf Begeisterung. “Man strebt nach gestalterischer Freiheit, man will nach eigenem Gusto bauen.” Beat ordnet das hindernisfreie Bauen in die selbe Sparte ein wie beispielsweise Brandschutz. “Der einzige Unterschied ist, dass beim Brandschutz Regressmöglichkeiten für normwidrige Bauten bestehen. Trotz gesetzlicher Vorgaben hat die Hindernisfreie Bauweise diese Möglichkeit nicht.” Jene Kritik, mit welcher Beat sich am häufigsten konfrontiert sieht, sind die Kosten. Das Argument vieler Bauherr*innen ist es, dass die Barrierefreiheit aufwendig und teuer (oder zumindest teurer) sei. “Dies ist für mich keine massgebende Grösse. Die Mehrkosten für Neubauten sind verschwindend gering. Der Mehrwert hingegen nicht.” Künstlerische Elemente am Bau kosten sogar teilweise mehr, als die Massnahmen für eine hindernisfreie Bauweise. Doch wer freut sich denn nach einem grossen Wocheneinkauf nicht darauf, seine Lebensmittel mit einem Lift statt zu Fuss in den dritten Stock zu befördern.
Beat kann die Kritik deswegen gelassen nehmen – er kennt den Mehrwert.
Ein aktuelles Beispiel, wie hindernisfreies Bauen Mehrwert schafft, bietet der öffentliche Verkehr. Die ÖV-Verantwortlichen sind momentan stark gefordert. Das grosse Ziel ist es, die Vorgaben des BehiG bezüglich des öffentlichen Verkehrs umzusetzen. BehiG? Ausgeschrieben bedeutet das: Behindertengleichstellungsgesetz. Dieses bezweckt, Benachteiligungen für Menschen mit Behinderung zu verhindern, verringern oder zu beseitigen. Das BehiG hat beispielsweise eine zwanzigjährige Übergangsfrist gestellt: Bis zu deren Ablauf im Jahr 2024 sollen alle Menschen den öffentlichen Verkehr autonom nutzen können. Alle Personen sollen ohne Hilfe durch Drittpersonen in der Lage sein, einen Bus selbstständig zu besteigen (sofern sie körperlich dazu in der Lage sind). Im August 2020 startete der Verein HBLU deshalb die Aktion “Nervenfutter”. Man verteilte Trockenfrüchte an die Busfahrer*innen, als Dank für die Nerven und Konzentration, welche sie beim Anfahren der neuen Hochkanten-Bushaltestellen beweisen müssen. Dieser Aufwand lohnt sich gemäss Beat für alle: Rollstuhlfahrer*innen oder Personen mit Rollatoren oder Kinderwagen können selbstständig ein- und aussteigen.
Erfolg nicht ohne Schattenseiten
Für Beat gibt es viele Erfolgserbnisse im Beruf. Eine Kundin bedankte sich bei ihm für seine Beratung beim Umbau der Dusche. “Die Pläne des Architekten waren für die Kundin nicht dienlich. Gemeinsam haben wir eine neue Lösung gefunden. Ihr Feedback war unglaublich: Sie war nicht nur enorm dankbar für die gute Beratung, sondern auch froh um die sachlichen, ausgewogenen Worte, welche ich gewählt habe”, führt Beat aus. Doch seine Arbeit ist ein Knochenjob. “Mein bisher unangenehmstes Erlebnis ist eine Sitzung, bei welcher der Sitzungsleiter mich vom ersten Satz an als Person angegriffen hat. Er hat mit den Medien gedroht und stellte klar, dass er unserer Aufgaben Schaden zufügen wollte.”
Obwohl andere Sitzungsteilnehmer*innen nachher Beat gegenüber klarstellten, dass eine Sitzungsleitung dieser Art keineswegs in Ordnung sei, beschäftigte es Beat noch eine Weile. “Es forderte und begleitete mich. Ich verstehe nicht, warum ein Mensch einen anderen so persönlich angreift, statt sich auf das wesentliche Thema zu konzentrieren.” Klar, dass man bei solchen Herausforderungen einen Ausgleich benötigt.
Bergluft für die Seele
“Stress ist nicht der richtige Ausdruck für die Herausforderungen, denen ich täglich begegne. Es kann zwar belastend sein, doch mein Naturell benötigt genau diese Herausforderungen. Deshalb sehe ich die kniffligen Momente meistens nicht als Belastung”, gesteht Beat. Wenn er Zeit hat, entspannt er jedoch trotz allem am liebsten in der Natur. In den Bergen, im Wald, joggend, auf Ski-, Gletscher- oder Sommerhochtour oder auch kletternd – hauptsache draussen.
Doch auch einen guten Kaffee auf dem hauseigenen Sitzplatz mit Sicht in die Bergwelt lässt sich Beat nicht nehmen. “Diese Freiheit, meine Zeit selber zu planen, ist für mich unschätzbar wertvoll. Klar geben mir Kund*innen die Termine vor, ich kann sie mir jedoch selber einplanen. Ich weiss, wann es einen Tag Luft braucht, um Fälle aufzuarbeiten. Und so kann ich auch meinem eigenen Biorhythmus folgen.” Das herausfordernde Tätigkeitsfeld lässt Beat also regelrecht aufblühen.
Eine Zukunft ohne Bauberatung
Zusammengefasst kann gesagt werden, dass kein Tag als Bauberater*in gleich ist. Man muss die Bauthematik verstehen, Pläne lesen können, Normen verstehen und anwenden. Das technische Wissen im Beruf ist breit. Spezifische Weiterbildungen gibt es in Form von Bauberatungstagungen (ca. 1 – 2 Tagungen in der deutschen Sprachregion pro Jahr). In strittigen Verfahren ist der Widerstand stark – doch gleichzeitig spürt man die Wertschätzung von Betroffenen und auch Behörden. Beat teilt seinen Gedanken davon, dass er eigentlich seinen Job so gut machen müsste, dass es ihn irgend einmal nicht mehr braucht.
“Ein guter Kollege hat in seinem Buch ‘Weichklopfen’ folgenden Satz niedergeschrieben: «Eine Architektur, die behinderten und beeinträchtigten Menschen entgegenkommt, verursacht in der Regel nicht mehr Kosten, wohl aber geistige Anstrengung. Wir sollten uns dieser Aufgabe engagiert annehmen.» Das ist für mich zu einer Art Leitsatz geworden.” Sogar berufliche Vorbilder hat Beat.
Namentlich sind dies vor allem vier starke Persönlichkeiten im Bereich Hindernisfrei Bauen:
Joe Manser hat die erste Fachstelle in Zürich gegründet und so den Grundstein gelegt. Heute führt Eva Schmidt die Fachstelle und ist für Beat eine ebenso starke Persönlichkeit. Und zu guter Letzt dürfen auch Sepp Odermatt und sein Vorgänger Seppi Lang nicht unerwähnt bleiben: Für Beat Koriphäen – und eine Art persönlicher Mentoren.
Mit diesen starken Persönlichkeiten als Wegbereiter und an der Front können wir also alle beruhigt älter und gebrechlicher werden – ohne Angst vor einer ungeeigneten Wohnung, einer unselbstständigen ÖV-Reise oder einem zu schmalen Theatereingang haben zu müssen.

Über Beat
Was empfiehlst du jemandem, der eine*n Berater*in auf der Strasse trifft?
„Ist das eine Fangfrage?“
Mich persönlich einfach ansprechen… „Salü Beat“ oder „Grüezi Herr Husmann“.
Wenn du ein Lebensmittel wärst, welches und warum?
Ein Bündner Birnenbrot! Es beinhaltet ganz viele wertvolle, essenzielle Nährstoffe, kann gut gelagert werden und kommt aus der Bergwelt. Das Birnenbrot hat eine bäuerliche, landschaftliche und naturnahe Verbundenheit. Und – es ist einfach super lecker! 😀
(Nicht zu verwechseln mit der Nusstorte!)
Quelle(n):
hblu.ch
zentralplus.ch, Artikel: “Dankeschön! Rollstuhlfahrer loben nervenstarke Luzerner Buschauffeure”
hindernisfreie-architektur.ch
Weichklopfen – Eric Bertels (2001)
admin.ch – Behindertengleichstellungsgesetz


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Aus dem Leben einer Lektorin
12. März 2021
2 Kommentare
Anton Schneider
Anhang des Beitrags kann man erkennen, wie wichtig die Arbeit der Bauberatung ist. Das allein in der Schweiz über eine Millionen Menschen eine Behinderung haben, zeigt, wie sehr diese Menschen von einer effektiven Bauberatung abhängig sind. Die Menschen, die den Beruf ausüben, haben definitiv Anerkennung verdient.
Katja
Lieber Anton
Danke für deinen Kommentar. Beat ist genau deiner Meinung auch sehr stolz auf seinen Beruf.
Es ist schön zu sehen/hören, dass auch andere Personen vom Fach diese Meinung vertreten.
Liebe Grüsse
Katja