Aus dem Leben

Aus dem Leben eines SBB-Kundenberaters

Der Warteraum ist voll. Ein älterer Herr sitzt ungeduldig auf einem der wenigen Sitzplätze. Zwei junge Mädchen schnattern aufgeregt. Eine Klimaanlage sorgt für kühle Temperaturen, obwohl durch die Schiebetüre ständig dicke Luft aus der Bahnhofshalle in den Schalterraum dringt. Über 50 Menschen warten auf eine*n Kundenberater*in, welche*r sich ihrem Anliegen annimmt. Doch – was tun diese Kundenberater*innen eigentlich so?

Trotz der langen Warteschlange versucht Matthias ruhig zu bleiben. In den Sommermonaten ist es nicht ungewöhnlich, dass die Wartezeiten in die Höhe schnellen und sich viele Menschen in der Schalterhalle tummeln. Man erkennt schnell warum: (Oft) scheint die Sonne und lockt in die Berge, an die Seen oder all die anderen Freizeitaktivitäten, welche die Schweiz zu bieten hat. Dementsprechend lang werden die Schlangen und es ist nicht ungewöhnlich, dass man mit längeren Wartezeiten rechnen muss. Für die Kundenberater ist das definitiv mit Druck verbunden. “Klar steht man unter Druck, wenn man bereits lange mit einem Kunden beschäftigt ist und sich abzeichnet, dass man definitiv noch eine Weile in dieser Beratung stecken wird. In diesen Momenten macht man einfach, was man kann und versucht, sich durch die länger werdende Wartezeit nicht allzu sehr ablenken zu lassen. Oft kann man nämlich auch gar nicht viel dagegen tun: Wenn man anfängt, schneller arbeiten zu wollen, hilft das meistens gar nicht wirklich. Man verschlechtert eher das Kundenerlebnis, statt einen Mehrwert zu schaffen”, meint Matthias. Er ist froh, an einem Bahnhof zu arbeiten, an welchem sich der Druck gut verteilt. “An kleinen Bahnhöfen mit nur eins bis zwei Schaltern lastet der ganze Druck auf einem selbst. An grösseren Bahnhöfen, mit über 10 offenen Schaltern verteilt sich dieser Druck auf viele Schultern.” Die Hochsaison bringt intensive Tage mit, aber geteiltes “Leid” ist eben doch oft halbes “Leid”.

Acht Stunden ständig auf Achse

Es ist nicht unüblich, im Sommer 7-Tage-Wochen zu arbeiten. Für einige unverständlich, für die SBB Kundenberater*innen der Alltag. “Ich glaube, man braucht einfach eine gute Strategie”, überlegt Matthias und lächelt ein wenig. Wie diese Strategie aussieht, hängt massgeblich mit den eigenen Bedürfnissen zusammen. Einige stehen trotz der unregelmässigen Arbeitszeiten jeden Tag um die gleiche Uhrzeit auf, um so einen guten Rhythmus zu bekommen. Andere gehen einfach dann schlafen, wenn sie müde sind und stehen auf, wenn sie wach werden. “Das Wichtigste ist wohl, immer positiv zu denken. Wenn du am ersten Tag der 7-Tage-Woche denkst: ‘Och nein, noch 6 Tage!’, dann hast du schon verloren.” Für Menschen mit ‚8 to 5‘ Jobs von Montag bis Freitag beinahe ein wenig unvorstellbar. Matthias zuckt aber einfach mit den Schultern: “Du stehst einfach auf und gehst arbeiten. Und wenn es wirklich schlimm wird, dann denkst du einfach daran, dass laut GAV bis zu 10 Tage (nach Absprache sogar 13 Tage) Arbeit am Stück erlaubt wäre.”

Wie so ein Arbeitstag in der Hochsaison etwa aussieht, erklärt Matthias ausführlich.

Bevor der Schalter um 7 Uhr öffnet, trudelt der Frühdienst ein. Dieser ist zuständig für einen kleinen Sicherheitsrundgang. Anschliessend richtet man seinen Schalter ein. Die unzähligen Systeme brauchen einen Moment, bis sie aufgeschaltet sind. In dieser Zeit checkt man die Tagesneuigkeiten: Ist die Arbeitszeit meiner Tour noch gleich? Gibt es spezielle Wechsel? Habe ich Sonderaufgaben? Fällt eine andere Tour aus?

Nachdem man sich einen kurzen Überblick geschaffen hat, öffnet man den Schalter, loggt sich ins Ticketsystem ein und begrüsst den ersten Kunden. Zwischen Dienstbeginn und Schalteröffnung liegen höchstens fünf Minuten.

“An Tagen mit vielen Kund*innen arbeitet man einfach. Ich kann nicht einfach aufstehen und mir fünf Minuten Pause gönnen – die Pausenzeiten sind festgelegt”, führt Matthias aus. Seit dem neuen Tourenplan sind die Schichten aber besser geworden: Meist hat man nach 4 – 4,5 Stunden die Mittagspause und arbeitet anschliessend noch einmal 4 – 4,5 Stunden. Jede Tour ist etwas anders gegliedert. Kern der Sache ist aber, dass nie zwei Mitarbeiter gleichzeitig anfangen oder aufhören.

“Für mich ist das kein Problem. Die Tage gehen schnell vorbei, weil man gar nicht viel  über die Arbeitszeit nachdenken kann.”

Nach diesen rund acht Stunden, bei denen man praktisch ständig einen Kunden bedient, ist Zeit für Feierabend. Man zahlt das Geld ein und zählt die Kasse. Wenn sie stimmt, kann man die Kasse abschliessen und die Belege ablegen. Man dreht den Stempel auf den nächsten Tag und macht Feierabend. Falls die Kasse nicht stimmen sollte, funktioniert es wie an jedem anderen Ort: Man sucht, bis man den Fehler findet. Zwischen Schalterschluss und Arbeitsende liegen im Normalfall 10 Minuten. Einzig der Spätdienst bleibt, bis die letzten Kunden bedient sich. Vorgesehenes Arbeitsende ist 21:20 Uhr.

“Das man länger arbeitet, bis zum Beispiel 21:40 Uhr kommt eher selten vor, und wenn, dann meistens nur im Sommer.”

Andere Bahnhöfe fangen früher oder später an zu arbeiten. Das hängt stark von der Kundschaft ab. Luzern öffnet eher spät: Die Touristen, aber auch die Luzerner lassen sich eher gegen Nachmittag und Abend am Schalter blicken.

Der wichtigste Ausgleich ist das Team

Besonders weil in Luzern ein junges Team arbeitet, kommt es nicht selten vor, dass man nach Feierabend noch gemeinsam durch die Strassen zieht. Ein Feierabendgetränk ist während normalen Zeiten oft an der Tagesordnung: Je nach Schichtbeginn und -ende ändert sich dabei die Konstellation ständig. Einige gehen früh nach Hause, andere stossen erst spät dazu.

“Das Team ist enorm wichtig. Man redet über den Tag und die Kund*innen. Das ist keinesfalls lästern. Es tut einfach nur gut, mit jemandem zu reden, der dich versteht”, erklärt Matthias und grinst.

Sonst sind Kundenberater*innen keine fremdartigen Wesen: Auch sie unternehmen Ausflüge und gehen in die Natur, um von der Arbeit abzuschalten. Sport oder Entspannung – jeder geht anders damit um.

“Vielleicht vermeidet man eher Orte mit vielen Menschen oder grossen Ansammlungen. Wenn du den ganzen Tag mit Menschen redest, willst du auch mal deine Ruhe. Da wir aber oft unter der Woche arbeitsfreie Tage haben, ist das meistens kein Problem.”

Der Job steht und fällt mit Menschen

Situationen wie die in der Einleitung beschriebene sind nicht selten. Und bei 50 wartenden Personen ist kaum ein Anliegen gleich. Manch lustige oder dramatische Geschichte hat Matthias bereits erlebt.

Auf die Frage, was sein negativstes Erlebnis am Schalter war, hat er nicht sofort eine Antwort. Nach einer kurzen Denkpause erzählt er ein Erlebnis aus seiner Anfangszeit am Schalter. “Damals im ersten Lehrjahr hatte ich eine negative Situation. Rückblickend ist es gar nicht so schlimm, aber ich war damals erst 15 Jahre alt und arbeitete erst seit zwei Monaten am neuen Ort. Ein Mann am Schalter begann herumzuschreien und zu fluchen, weil er eine Gebühr nicht zahlen wollte. Schliesslich griff er mich auch verbal an.”
Das sei sowieso tendenziell der schwierigste Teil: Wenn persönliche Angriffe erfolgen. “Mittlerweile kann ich damit umgehen. Und es passiert ja auch nicht täglich. Dafür gibt es ab und zu unterhaltsame Dramas”, antwortet Matthias und lacht fröhlich. “Vielleicht gefällt mir deshalb der Job so gut?” Nach einer kurzen Pause fügt er aber hinzu: “Dramas sind jedoch nur lustig, solange sie nicht an deinem Schalter passieren.”

Was es denn so für Dramas gibt? Matthias hat viele Geschichten. Eine handelt von einer pöbelnden Person, welche partout die Schalterhalle nicht verlassen wollte. Verschiedene Mitarbeiter*innen, Securitrans (Sicherheits des öffentlichen Verkehrs) und schliesslich sogar die Polizei waren darin involviert. “Solche grossen Spektakel gibt es nicht oft. Aber selbst die Kund*innen können sich dann nicht mehr konzentrieren und nehmen sich die Zeit, dem Chaos zuzusehen.” Matthias grinst zwar beim Erzählen, fügt dann aber ernst hinzu: “Natürlich sind solche Situation an Ort und Stelle doch sehr angespannt. Es erfordert Fingerspitzengefühl, in diesen Momenten richtig zu handeln.” Aber im Nachhinein – wenn das Geschehene verarbeitet wurde – kann man darüber schmunzeln.

“Auch Tourist*innen sind immer für Spässe gut. Sie sind sowieso meist lockerer als die Schweizer*innen.” Woran das liegen mag, lässt sich nicht sagen. Vielleicht ist man in den Ferien allgemein lockerer? Oder sind wir Schweizer*innen doch etwas aufs Negative fokussiert?

Kommunikation ist das A und O

Gerade dass man so viele unterschiedliche Menschen mit verschiedenen Anliegen bedient, ist das Spannende, aber auch die Herausforderung am Job.
“Eine introvertierte Person, welche sich kaum getraut, mit anderen Menschen zu sprechen, ist wohl definitiv falsch.”

Auch sprachlich sollte man etwas auf dem Kasten haben: Nicht nur in Deutsch wollen die Kund*innen freundlich, zuvorkommend und kompetent bedient werden. Nein, gerade auch Tourist*innen sprechen oft Englisch. Richtig kompliziert wird es dann, wenn Personen am Schalter landen, welche nur ihre eigene Landessprache (z.B. Mandarin) sprechen. Auch Gehörlose sind für Matthias im ersten Moment eine Herausforderung. Mit Händen & Füssen sowie Übersetzer-Apps hat er es bisher aber immer geschafft.

Durch die verschiedenen Kund*innen und ihre sich ändernden Bedürfnisse verändert sich auch der Job.

Tickets im Wandel

“Wir verkaufen nicht mehr dieselben Billette. Die Zeiten, an denen wir Tickets ‘Lozärn-Bärn retour es halbs’ verkauft haben, sind beinahe Geschichte. Früher waren Quantität und ’nackte Zahlen‘ noch etwas wichtiger als die weichen Faktoren wie z.B. Kommunikationsfähigkeit. Heute ändert sich das Geschäft”, meint Matthias dazu. Daran sind aber längst nicht nur die Tourist*innen Schuld. “Mittlerweile verkaufen wir aufwendige Reisen quer durch die Schweiz.” Bernina-Express, Gotthard Panoramastrecke oder Glacier Express sind dabei nur einige der beliebten Reiseziele. “Die lange Beratung übernimmt Oberhand. Komplexe Mobilitätsbedürfnisse verlangen auch nach komplexer und kompetenter Beratung.” Genau das ist auch der Grund, warum sich Matthias nicht für immer in diesem Job sieht. Obwohl er Kundenkontakt mag, wird es ihm auf lange Sicht eher zu viel Beratung.

Wie sehen die Bedürfnisse denn heute aus? Im Jahr 2019 hat die SBB nach eigenen Angaben noch rund 10 Millionen Billette von insgesamt 123,6 Millionen am Schalter verkauft. Was bedeutet das nun? 9 von 10 Kunden kaufen ihre Tickets mittlerweile selber. Und die anderen? Eine der fünfzig wartenden Personen im Schalterraum könnte zum Beispiel dieses Anliegen haben:
“Ich fahre drei Mal die Woche nach Cham und zurück. Zusätzlich fahre ich auch zwei Mal nach Sursee und retour. Ach, und vier Mal im Monat besuche ich Tante Clarice in Chur.” Es gilt, für diese Kund*innen ein geeignetes Ticket oder Abonnement zu finden. Auch die Drittgeschäfte wie Geldwechsel oder Western Union (Geldtransfer) werden immer wichtiger. Am Schalter kann man Gepäck verschicken oder eine Rückerstattung verlangen.

“Es gibt keine zwei gleichen Tage”, meint Matthias dazu.

Ein Traumberuf?

Nach einem langen Arbeitstag in der Hochsaison ist man vielleicht erst um 22:00 Uhr Zuhause. Dann, wenn die Kolleg*innen bereits von der Badi oder vom BBQ wieder im trauten Heim eintrudeln, geniessen Kundenberater*innen erst ihren Feierabend.

“Ich bereue meine Entscheidung keineswegs, Kundenberater geworden zu sein”, erklärt Matthias stolz. “Der Job ist abwechslungsreich und spannend. Es gibt auch enorm viele nette Leute!” Mit einem Lächeln erzählt Matthias von einer ganz besonderen Kundin.

“Eine Dame hat mir einmal einen Kaffee und ein Kuchenstücklein im Café gekauft und ist mit diesem zum Schalter zurückgekehrt. Besonders witzig war, dass sie mir einen Cappuccino mitgebracht hat. Diesen hat sie mir mit den Worten ‘Ech han dänkt sie gsänd ned so nocheme schwarze-Kafi-Mönsch us’ übergeben – und sie hatte Recht.”

Solche Erlebnisse oder auch nur kleine Dinge wie “Das ist nett, vielen Dank” verschönern Matthias’ Tag sofort. Besonders ältere Leute sehen die Kundenberater*innen noch oft als die ‚Beamt*innen‘ von früher: Sie schätzen die Berater*innen und ihren Service sehr. Obwohl die SBB heute trotz Staatseigentum fast genau wie eine Unternehmung der Privatwirtschaft funktioniert, mit Kostendruck und allem drum und dran (wie Matthias sehr gerne betont). Er zweifelt aber nicht daran, dass die Kundenberater*innen heute mehr können und abliefern müssen, um das gleiche Ansehen wie früher zu erhalten.

“Das Wissen ist enorm vielfältig und breit. Früher kannte man den Tarif auswendig und wenn man etwas nicht wusste, blätterte man in gedruckten Büchern. Heute musst du vor allem wissen, wo du die Informationen abholen kannst.”
Hätten Sie zum Beispiel gewusst, dass man in Südafrika nur Geld abheben kann, wenn man eine Frage beantwortet? Oder dass man beim Railjet Biel-Budapest die Reservierungen und Billette nicht gleichzeitig auslösen kann?

Es sind Dinge wie diese, welche man bei der täglichen Arbeit wissen muss.

Das macht Matthias sichtlich Spass. Wenn man ihm zuhört, besteht kein Zweifel daran, dass er seinen Job und seine Arbeit wirklich liebt. Die Empfehlung, Kundenberater*in zu werden, spricht er vollkommen ernst und vorbehaltlos aus. 

Man bekommt beinahe Lust, selber hinter dem Schalter zu sitzen und die Kund*innen bei ihren vielfältigen Anliegen zu unterstützen.

Wahrlich – an Abwechslung wird es den Kundenberater*innen sicherlich nie feh

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Über Matthias

Was empfiehlst du, wenn man jemandem aus deiner Berufsgattung auf der Strasse trifft?

Wenn du ein Lebensmittel wärst, welches und warum?

Bitte motzt nicht über Kleinigkeiten, welche gar nicht schlimm sind. Sonst unterscheiden wir uns nicht sehr von anderen Menschen. Man muss auch nicht zwingend mit uns über Züge reden. Regt euch einfach bitte nicht über eine Verspätung von zwei Minuten auf und vermeidet Pauschalaussagen wie: Die SBB ist zu teuer, immer unpünktlich und dreckig. 😀

*lacht* Ich wäre eine Pizza. Denn man kann immer Neues ausprobieren, wenn es auf altbewährter Tomatensauce und Mozarella ist. Ausserdem hat man mit Pizza immer etwas zu lachen, ist gut aufgelegt (und belegt, höhö) und es ist gemütlich. Eine Pizza gönnt man sich – das passt zu mir.

(Anmerkung der Autorin: Diese Antwort musste nachgereicht werden :D)

Quelle(n): 
SBB Geschäftsbericht, 2019

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